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interview mit christoph hochhäusler

Wie ist die Idee zu UNTER DIR DIE STADT entstanden, was war der Ausgangspunkt?

Am Anfang war eigentlich die Erinnerung an die biblische Geschichte von David und Batseba. Mein Vater hat uns oft Geschichten erzählt, auch biblische Geschichten, und zu denen, die mir geblieben sind, gehört die von David und Batseba: David, der Liebling Gottes, der König, begehrt Batseba, die Frau seines Untergebenen Uria, den er an die Front schicken lässt, um freie Bahn zu haben. Der Kern, den die Bibel offenlässt, ist die Frage: Kann man mit einer so bösen Tat etwas Gutes erreichen? War Batseba eingeweiht? Die Ambivalenz dieser Geschichte fand ich immer faszinierend. Der Wunsch, mit einer Frau zu sein, ist ja erst einmal wunderschön, aber mit einem solchen Verbrechen diesen Wunsch zu verwirklichen, gefährdet ihn natürlich sofort wieder.

Dann gab es einen langen Prozess des Schreibens. Es war mir nicht wichtig, die biblische Geschichte zu behalten, sondern das war einfach der Startpunkt. So arbeite ich oft, dass ich irgendein altes Motiv habe, eine Klammer, und mit dieser Klammer dann Fragen an die Wirklichkeit stelle. Und eine dieser Fragen war: Wie sieht moderne Macht aus? Wer ist heute König?

Und da kamen wir – Ulrich Pelzer und ich, wir haben das Buch zusammen geschrieben – dann sehr schnell darauf, dass das das Investmentbanking sein könnte. Unsere These war, dass das Moderne dieser Macht im Investmentbanking die Abstraktion ist, d.h. die Entfernung vom Körper, auch von den Körpern derer, die die Folgen dieser Entscheidungen zu spüren bekommen. So wie David aus seinem Palast sich nicht wegbewegt, aber weiß, dass Uria an der Front sterben wird, ist jetzt die Entfernung zur Konsequenz der Management-Taten auch abstrakt, noch abstrakter sogar, weil es um Kenngrößen geht, um Zahlen, und man hinter scheinbar rationalen Entscheidungen verschwinden kann. Wir haben dann viel recherchiert, viel gelesen, und über einige Schleichwege und Kontakte viele Banker aus dem mittleren und oberen Management getroffen und gesprochen.

Die Geschichte von David und Batseba erzählt auch, dass Gott erzürnt war – er ist Teil der Geschichte.

Ich glaube ja, dass Religion als, sozusagen, Bindemittel von Überzeugungen, die eigentlich unverbunden sind, nie aufgehört hat zu existieren. Und insofern ist die Welt, in der die Banker heute leben, nicht weniger religiös als die Welt, in der David lebte. Sie fühlen sich auch vom Schicksal – aka Gott – berührt und auserwählt, sie glauben, dass sie es sind, die diese Maschine leiten müssen ... D.h. das Privileg, die Macht zu haben, ist immer verbunden mit dem Gedanken, dass man auserwählt ist. Und insofern sind das auch Lieblinge Gottes, wenn man so will.

Sie beschreiben das Moderne der Macht im Investmentbanking als Abstraktion. Gleichzeitig ist diese Macht aber sehr wirklich, sehr konkret, sehr wirkungsmächtig.

Wir wollten nicht die Finanzwelt durchleuchten. Ich glaube, dass diese Banker-Welt nur extremer ist, und deshalb lassen sich bestimme Exzesse besser beobachten. Uns hat diese Welt interessiert als Beispiel für unsere Zeit, die sehr abstrakt geworden ist. Welche Auswirkungen hat diese Art zu denken auf, zum Beispiel, unsere Liebe? Inwieweit wird die Liebe erfasst oder infiziert vom System dieses Denkens? Das ist eigentlich das, was uns interessiert hat. Was passiert mit dem Körper? Und: inwieweit sind alle Geschichten unzuverlässig oder werden unzuverlässig? Ist das nicht eigentlich ein System, das systematisch unzuverlässige Geschichten produziert?
Es geht im Banking ja darum, zu beschreiben. Die Hauptaufgabe der Banken ist es, den Markt zu erzählen – also Geschichten zu verkaufen, Finanzprodukte, die ein Versprechen auf ein Happy End, auf Gewinn in sich tragen. Und so, wie das systemisch gebaut ist, darf eigentlich niemand die Wahrheit sagen bzw. alle müssen in Abhängigkeit erzählen. Dieses System unzuverlässiger Erzählungen fanden wir interessant. Das führt in diesen Firmen ja ganz konkret zu irrsinnigen Verwerfungen, weil z.B. die panoptische Kontrolle von oben nur über Berichte funktioniert, und die Berichte notwendigerweise von jedem Heldengeschichten erzählen: Jeder Mitarbeiter muss einen Bericht schreiben, in dem er Erfolg hat, sonst fliegt er aus dem System. Da aber nicht alle Erfolg haben können, wird in diesen Berichten auch viel Falsches erzählt. Und so sind sich die Banken in einem katastrophalen Ausmaß unbewusst geworden über ihren eigenen Zustand.

Wie bewusst sind sich die Akteure über diese “Unzuverlässigkeit ihrer Erzählungen”, gerade nach der Finanzkrise?

Mein Eindruck bei vielen Gesprächen war, dass diese Leute sehr stark im Tunnel arbeiten, weil sie nur das kleine Feld übersehen können, in dem sie arbeiten. Und sie haben eigentlich keine Zeit, die Perspektive auf den Zusammenhang zu vermissen. Es gibt eine starke interne Logik: Alle anderen machen das ja auch so! Und insofern war die Krise eine Art Korrektur. Die Krise sagt ja eigentlich nur: Ich glaub’ dir nicht. Und sobald jemand sagt: Ich glaube diese Geschichte nicht, ich glaube nicht, dass diese Immobilie oder dieses Finanzprodukt diesen Wert hat – dann bricht der Markt zusammen. Je mehr Leute anfangen zweifeln, umso mehr Leute kommen dazu, die dann weiter an deiner Geschichte zweifeln, das ist so, im Kino wie im Leben … (lacht)

Wie sehr prägt dieses Denken die Beziehung von Svenja und Cordes?

Unsere beiden Liebenden – wenn sie das sind, das kann man ja fragen ¬– sind beide unzuverlässige Erzähler. Wir erleben sie immer wieder in Situationen, wo sie nicht die ganze Wahrheit sagen oder offen lügen, gerade über ihren Lebenslauf. Wer bin ich? – Darüber wird gelogen. Die Frage ist dann: Weiß der, der lügt, noch, was er lügt? Und weiß der Zuhörer, was die Wahrheit ist? Das ist ja in beiden Fällen nicht so. Ich glaube, dass der Cordes, wenn er sagt, dass er in diesem Haus geboren ist – in dem er nicht geboren ist – in dem Moment daran glaubt … Und Svenja weiß nicht, was wahr ist, sie erfährt es später, und das trägt bei zu der Krise dieser Liason.

Die Sprache kennt viele Begriffsanalogien zwischen Lieben, Aneignen, Besitzen. Sehen Sie heute eine neue Dimension in diesem Zusammenhang?

Ich glaube, dass sich die Menschen über die Jahrhunderte eigentlich ziemlich ähnlich bleiben. Aber es gibt so etwas wie zeitgenössische Ausformungen. Was sich sicher beschleunigt hat, ist der Warencharakter von allem. Darum geht es ja im Banking sehr stark, dass man eine Zuordnung von Objekten und Leuten zu Zahlen treffen muss, ein „Rating“ … Und „Rating“ führt automatisch zu „Perfomance“. Es geht dann nicht mehr so stark um die Wirklichkeit einer Person, sondern um ihre Wirkung und um ihre Wirkungsmöglichkeit. Wenn Cordes am Ende des Films sagt, er wolle über Liebe sprechen, aber er glaube sich nicht, dann ist er ein „Performer“, der seine eigene Liebes-Performance nicht glauben kann. Dann hat er ein Problem.

Steht im Beginn der Beziehung zwischen Svenja und Cordes eine Sehnsucht nach Entsicherung, nach Konfrontation?

Ich glaube, dass sie irgendwie fallen wollen, dass sie beide eigentlich ein zerstörerisches Element haben. Und dass der Grund für dieses zerstörerische Element eigentlich eine Sehnsucht ist, dass dieses Zerstören-Wollen, Fallen-, Alles-Verlieren-Wollen, immer auch heißt: Wirklich-werden-Wollen. Als Sehnsucht. Wie der Spieler, der alles verliert, am glücklichsten ist. Alles fällt von ihm ab.

Was macht die beiden so besonders attraktiv füreinander?

Ich glaube, das Schlüsselwort ist Unberechenbarkeit, im mehrfachen Sinne. Cordes will für seine berufliche Umwelt unberechenbar sein, das ist eigentlich sein Machtinstinkt: unberechenbar zu sein. Und was ihn an Svenja fasziniert, ist auch Unberechenbarkeit. Also: Wer bist du eigentlich? Weil die Zeichen, die sie sendet, ambivalent sind. Es gibt dieses Changierens ihres Charakters, sie ist immer uneindeutig, und das ist … Sie fällt aus dem „Rating“. Man weiß nicht, wer sie ist, und das ist ihre Waffe, sozusagen. Sie ist Roland ebenbürtig.

Aber es geht bei der Attraktion auch immer um etwas ganz Archaisches. Man trifft jemanden, und man weiß sofort, ob man sich lieben oder hassen könnte. Das erste, was wir wissen, ist ein Gefühl, und das ist gefährlich. Die Logik kann uns nicht be-schützen. Für mich geht es im Kino eigentlich immer um diese Art von Gefahr.

Wie haben Sie Ihre Schauspieler gefunden?

Nicolette stand mir schon früh vor Augen. Aber die Frage war dann, ein Paar zu finden, das man in dieser Konstellation glauben kann – und da haben wir verschiedene Konstellationen ausprobiert, auch mit anderen Schauspielerinnen. Die Konstellation mit Robert Hunger-Bühler und Nicolette kam dann relativ knapp zustande, die hat mir eingeleuchtet, als ich die beiden wirklich zusammen gesehen habe. Das ist etwas, was man auf dem Papier nicht weiß.
Und diese Rollen „Die-Frau-von“, „Der-Mann-von“, die drohen ja immer unterzugehen, weil sie die Regisseure oder auch die Schauspieler nicht ernst genug nehmen. Marc Waschke schätze ich als einen unglaublich präzisen Schauspieler, er hat eine wahnsinnige Kontrolle über sein Spiel, und das schien mir aufzugehen in dieser Rolle. Und Corinna Kirchhoff ist einfach so ein Naturphänomen, sozusagen, als Schauspielerin, und sie hat aus dieser Rolle, finde ich, wirklich etwas Großes gemacht.

Es fällt auf, wieviel Raum Sie der Architektur und der Darstellung der Architektur der Frankfurter Bankenwelt in Ihrem Film einräumen. Warum spielt das eine so wichtige Rolle?

Die Frage ist ja immer … man lebt und versammelt, wie Borges sagt, Schiffe und Bibliotheken und Häuser und Objekte, also man produziert permanent Spuren, Beweisspuren, wenn man so will; und am Ende, sagt Borges, ergibt sich ein Bild von einem selbst. Und so beschreiben die Gebäude, die uns umgeben, uns selbst. Wenn man sich die Gebäude dieser Banken anschaut – die ja auch nichts anderes sind als Versuche, die Bank zu beschreiben, die aber gleichzeitig völlig undurchsichtig werden in ihrer behaupteten Transparenz, ganz unklar als Porträt sozusagen – dann erlebt man etwas von diesem Leben, indem man den Raum zeigt. Der Raum verkörpert sozusagen unser Leben.

Es gibt in der Geschichte der modernen Architektur dieses Versprechen der Transparenz, die Offenheit bedeuten soll. Eingelöst wurde es aber als Kontrolle. Diese scheinbare Transpa-renz der Banken, dieses Glas, wirft uns eigentlich zurück – als Spiegelmotiv, aber einfach auch als die Tatsache, dass der Büroschlaf schwieriger geworden ist. Das ist natürlich auch Kontrolle. Man sieht durch den Glastisch, und man sieht die Farbe der Strümpfe.

Mit welchen Überlegungen sind Sie ans Szenenbild gerade hinsichtlich der Bankenwelt gegangen?

Wir haben z.B. die Etage der Bank im Film komplett eingerichtet, und dabei fragt man, welche Materialien, welche Farben, welche Formen da vorkommen. Eine der Entscheidungen war dann, das Büro von Cordes, auch den Teppich, weiß zu machen, damit der Raum noch weiter abhebt. Der schwebt ja regelrecht, und das verstärkt die Entfernung vom Boden. Das war im 27. Stock, man hat ja wirklich eine weite Aussicht, und da die Wände aus Glas sind, hat man so ein komisches, göttliches Gefühl sozusagen. Und dem gegenüber steht die Behauptung der Seriösität, die Holztäfelung … Solche Überlegeungen gab es. Wofür steht das, welche Wirkung will man damit haben? Aber dann natürlich auch: Wie sehen reale Vorbilder aus? Bilder von Günter Förg z.B., die bei uns im Büro von Cordes hängen, die hingen auch im Büro von Rolf Breuer, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank.

In der Bildsprache fällt auf, dass Sie oft eine bestimmte Kamerabewegung einsetzen, die wie ein Scan die Gegenstände immer wieder in gleichmäßigen Rhythmus erfasst.

Mir geht es mit diesem Mittel – wenn Sie „Scan“ sagen, dann ist das schon richtig – eigentlich um einen technischen Blick. Also nicht ein Ereignis, das „für die Kamera“ existiert – sondern die Kamera tastet nur ab, was sowieso da ist, als rhetorisches Element der Filmsprache. Die Kamera, die scannt, ist keine Kamera mehr mit einem Interesse.

Um ein Beispiel zu nehmen: Wenn man eine Partyszene im konventionellen Sinne auflöst, dann gibt es den Kellner, der die Kamera von einem zum nächsten Pärchen mitnimmt. Das jetzt ganz autonom zu machen, also zu sagen: die Kamera bewegt sich, egal was passiert – das impliziert eine Art von technischem Auge, und das schien mir passend für die Szenen, wo wir das eingesetzt haben.
Aber ich entwerfe eine Auflösung nicht am Reißbrett, sondern das sind schon sehr stark assizotaive, emotionale Ideen. D.h. es gibt keine durchformulierte Filmsprache in dem Sinne, dass man sagt, das macht man jetzt so und nur so. Aber es gibt natürlich Verabredungen. Mein Kameramann Bernhard Keller kommt früh dazu, er liest frühe Drehbuch-Fassungen und macht sich seine Gedanken dazu. Und ich arbeite viel mit Referenzen, es gibt irgendwann ganze Bücher voll mit irgendwelchen Fotos und Gemälden, Architektur usw. Und ich schreibe immer eine Art Mini-Manifest, in dem dann steht, was ich nicht machen und was ich machen möchte – und dann stellt man fest, dass man sich nicht dran halten kann ... (lacht)

Hatten Sie eine besondere Vorgabe für die Inszenierung der Liebesszenen?

Ich glaube, dass Kino da eigentlich an seine Grenzen stößt, weil … Abseits von voyeuristischer Identifikation merkt man bei Sexszenen eben, dass man im Kino sitzt, weil man nicht teilnehmen kann … (lacht). Insofern hatten wir versucht, einen Weg zu gehen, der den Fokus nicht darauf legt, mit dem Ziel, das so zu zeigen, dass man sich für die Menschen als Handelnde interessiert, und nicht für den Sex.

In der Szene, in der Oliver und Svenja miteinander schlafen, setzen Sie ebenfalls diese Scan-Einstellung ein …

Ja, genau. Dieser „Scan“ ist ja immer dann eingesetzt, wenn man das Gefühl hat, dass das, was passiert, sozusagen unwillkürlich passiert. Das hat dann nichts mehr mit Entscheidungen zu tun. Es geht um eine bestimmte Art von Marionettenhaftigkeit.

Irritierend wirken die Szenen, in denen Cordes einem Junkie beim Fixen zusieht. Sehen Sie Analogien zu den hinlänglich kolportierten Orgienpraktiken aus der Welt der Macht?

Es gibt natürlich genügend Vorbilder hinsichtlich Prostitution, Bondage oder was auch immer, also extremen Körpererfahrungen, im weitesten Sinne. Aber es gibt kein Eins-zu-eins-Vorbild für diese Szenen mit Cordes. Es hat mich immer fasziniert, dass die Banken- und Drogenszene in Frankfurt so nah aneinander sind und sich teilweise sogar überlappen; dass man also nicht umhin kann zu sehen, wie Leute Drogen nehmen. Drogen zu nehmen, auf diese Art, ist ja ein total radikales Verhältnis zum Körper, und ich konnte mir vorstellen, dass sich jemand wie Cordes – der so entrückt lebt, der kein handwerkliches Verhältnis mehr zu den grundsätzlichen Lebensdingen hat –, dafür interessieren könnte. So wie wir ins Kino gehen … Für mich war das eigentlich immer eine „Kino-Szene“. Was sucht man im Kino? – das was man selber nicht lebt, aber was einen fasziniert, Massenmörder oder irgendwelche Instinktwesen, die sich bedingungslos lieben, die schwitzen usw ... Man hat die Sehnsucht nach der alten Heimat, sozusagen, nach dem Körper, dem man nicht entkommt.
Was dann dazu kam, war, dass wir gesehen haben, dass das ja ganz verwandt ist. Das Geschäftsmodell des Bankers ist eigentlich identisch mit dem des Drogenhändlers. Man macht Kunden abhängig, im einen Fall Kredite, im anderen Fall Suchtstoffe. Und diese Abhängigkeit soll nach Möglichkeit nicht vorzeitig enden, d.h. man wünscht sich nicht, dass der Klient stirbt, sondern dass er möglichst lange kreditabhängig bleibt.

Um die Kinoanalogie weiterzuführen: will auch das Kino seine „Kunden“ süchtig machen?

Natürlich kann Kino auch ein Suchtstoff sein. Und wie bei einer Droge, geht es fast immer um einen Zustand der Lebensferne, der Alltagsferne. Ich glaube schon an ein Kino, das so gebaut ist, dass man mit den Eindrücken, den Erfahrungen, die man im Kino gemacht hat, ins Leben geht und vielleicht dann besser über sich selbst Bescheid weiß oder über verschiedenste Dinge, die einen etwas angehen, besser sprechen kann. Im Grunde, glaube ich, ist die wichtigste Funktion des Kinos – neben Trost, und Ruhe vielleicht auch, weil man einfach still sitzen darf – die, an der Begriffsbildung mitzuwirken. Wir verhandeln ja jeden Tag: Was ist wirklich? Was ist eigentlich los? – Und daür brauchen wir Bilder, Metaphern, Werkzeuge. Und das Kino produziert, glaube ich, im besten Fall, Werkzeuge und Metaphern, mit denen man Dinge beschreiben kann, die man vorher nicht beschreiben konnte.

D.h. ein Film, der eine Geschichte in der Bankenwelt erzählt, über Betrug und Wirklichkeit, über unzuverlässige Erzählungen, Liebe, Sehnsucht und Macht, ist auch ein Film übers Kino?

Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, jeder Film handelt auch vom Kino, wenn er gut ist … (lacht)

 

christoph hochhäusler Geboren 1972 in München. Architekturstudium an der TU, Berlin, anschließend Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Christoph Hochhäusler ist Mitbegründer und -herausgeber des Filmmagazins Revolver. Zu seinen Filmen zählen: FIEBER (Kurzfilm, 1999), MILCHWALD (2003), FALSCHER BEKENNER (2005), SÉANCE (Teil von DEUTSCHLAND 09, 2009), UNTER DIR DIE STADT (2010) und zuletzt DREILEBEN: EINE MINUTE DUNKEL (2011).

 

interview mit nicolette krebitz

Frau Krebitz, Sie spielen in Unter Dir die Stadt die Rolle der Svenja. Geben Sie bitte eine kurze Charakterisierung dieser Figur.

Svenja ist die Frau eines aufstrebenden Bankers. Wir haben uns ihre Biografie so vorgestellt, dass sie in der Vergangenheit nicht zuletzt wegen des Berufs ihres Mannes oft den Wohnort gewechselt und die eigenen beruflichen Ziele nicht so ehrgeizig verfolgt hat. Sie ist jemand, die es mag, fremd in Städten zu sein und für sich Interessantes zu finden, ohne diese existenzielle Not, irgendetwas leisten zu müssen. Ihr Mann mag an Svenja diese Ungebundenheit, vielleicht sogar Unangepasstheit, die dem spießigen Bankerleben entgegengesetzt ist. Sie mag an ihm, dass er ihr Halt gibt.

Was sind Szenen, die besonders gut erkennen lassen, wer Svenja ist?

Joggen gehen, ohne dass man das als Ausgleich zum Beruf macht oder aus rein sportlichen Gründen. Ich dachte mir immer, sie tut das, um ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, auch weil man dabei eine Stadt ganz gut kennenlernt. Seitdem gehe ich auch selber joggen. Ich habe auch Yogastudios besucht, weil ich dachte, das machen eben solche Frauen. Dabei habe ich dann auch tatsächlich einen Unterschied gefunden zwischen Berliner und Frankfurter Frauen. Das waren in Frankfurt doch sehr in Form gebrachte Frauen, einander irgendwie auch ähnlicher als in Berlin. Wichtig finde ich auch die Anfangsszene, in der Svenja sich in der Stadt herumtreibt und Ähnlichkeiten sucht. Sie erblickt eine Frau, die die gleiche Bluse trägt, sie folgt ihr und kauft dann auch das gleiche Gebäck, wie um diese Identität auszuprobieren. Damit hört es aber auch schon wieder auf, das bleibt an der Oberfläche.

Es gibt eine interessante Szene, in der Svenja die Ehefrau von Roland Cordes aufsucht, dem Spitzenbanker, mit dem sie eine Affäre begonnen hat.

Diese Szene stand schon von Beginn an im Drehbuch, und hat eine wichtige Funktion. Svenja ist noch auf der Suche nach einem Modell, wie sie denn werden könnte, wie man sich das positiv vorstellen könnte, die Frau von jemandem zu sein. Es gibt ja diese Dinge, die Bankersfrauen so machen: Charity für Künstler, das ist eine Möglichkeit, die die Frau von Cordes vorlebt, eine Grande Dame, aber lässig. Ich finde Corinna Kirchhoff in dieser Rolle großartig.

Was macht die Anziehung aus, die zwischen Cordes und Svenja entsteht?

Er garantiert ihr, dass sie nicht zur Ruhe kommen kann. Ihre Gefühle gelten nicht ihm, sondern eigentlich nur dem Zustand, aufgewühlt zu bleiben und in einen Abgrund getrieben zu werden, der ihr mehr verspricht. Umgekehrt ist er einfach an dem Punkt angelangt, wo ihn alles langweilt, und diese Frau verspricht ihm etwas Unbekanntes. Das ist sehr unpersönlich, weil sie sich nicht wirklich meinen.

Wie war das Drehen der Liebesszenen?

Diese Szenen waren sehr durchchoreographiert, das wurde uns schon vorher gesagt, wie Christoph und sein Kameramann das auflösen würden, und dann haben wir das am Set auch mit einer großen Ruhe gedreht. Wir waren nie nackt, weil das immer schnelle Sachen sein sollten.
Es hat eine große Naivität, wie diese beiden Angeber sich sexuell begegnen, das war überhaupt nicht wissend, sondern fast schüchtern und zärtlich innerhalb dieser rauen und kühlen Geschichte.

Zur Zeit ist viel von Frauenquoten in Führungspositionen die Rede. Christoph Hochhäusler zeigt Svenja als Fremdkörper in einer absolut traditionellen Männerwelt.

Ich selber kenne das nur aus Beobachtungen, ich bin berufstätig, seit ich zehn war. So kommt es mir zumindest vor. Ich lebe allein mit meinem Sohn und arbeite und folge wahrscheinlich sehr viel mehr einem Drang, mich selbst zu verwirklichen, insofern führe ich persönlich ein ganz anderes Leben als Svenja. Viele Frauen von Spitzenmanagern haben beinahe so etwas wie eine Ausbildung durchlaufen, sie kennen das soziale Protokoll ihrer Rolle genau, sie wissen, wann sie in den Vordergrund treten dürfen und wann nicht. Ich glaube, dass Svenja gern ein wenig besser funktionieren würde in dieser Welt, gleichzeitig es aber so aussehen lässt, als hätte sie kein Interesse daran. Ich habe sie als sehr viel unsicherer empfunden als Christoph, der sie als eher selbstbewussten Paradiesvogel in das Buch geschrieben hatte. In diesem Unterschied lag unser Geben und Nehmen beim Drehen.


nicolette krebitz Geboren 1972 in Berlin, erste Auftritte vor der Kamera bereits 1982. Seitdem war sie in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen sowie als Theaterschauspielerin zu sehen, gründete ihre eigenen Band und komponierte zusammen mit ihren Kolleginnen den Soundtrack des Kinofilms BANDITS. Mit 23 Jahren wurde sie dafür bereits zum zweiten Mal mit dem Adolf Grimme Preis ausgezeichnet, ebenso mit einer Goldenen Schallplatte und dem Bayerischen Filmpreis für die Beste Filmmusik.2004 erhielt sie ihre zweite Goldene Kamera für ihre Rolle in Vivian Naefes SO SCHNELL DU KANNST. Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin produziert und inszeniert Nicolette Krebitz seit 2001 eigene Filme, darunter JEANS und DAS HERZ IST EIN DUNKLER WALD. Ihr Kurzfilm DIE UNVOLLENDETE war Teil der Kompilation DEUTSCHLAND 09, die Im Wettbewerb der Berlinale 2009 uraufgeführt wurde.

Filmografie (Auswahl)

2010 UNTER DIR DIE STADT, R: Christoph Hochhäusler
2008 LIEBESLIED, R: Anne Høegh Krohn
2003 ZWISCHEN TAG UND NACHT, R: Nicolai Rohde
2002 SO SCHNELL DU KANNST, R: Vivian Naefe
2000 THE TUNNEL, R: Roland Suzo Richter
1996 BANDITS, R: Katja von Garnier
1994 AUSGERECHNET ZOÉ, R: Markus Imboden

interview mit robert hunger-bühler

Sie spielen den Bankmanager Roland Cordes. Wer ist dieser Mann für Sie?

Roland Cordes ist in seiner Welt des Bankgeschäfts in eine Spitzenposition gelangt, in der es nicht mehr höher geht. Er hat eine dementsprechend steile Biographie hinter sich und kann nun auf alle hinabsehen, ganz buchstäblich und auch im übertragenen Sinn - er kann über die Stadt und über die Menschen in ihr bestimmen.

Sie nehmen also den Filmtitel sehr ernst und sehen Cordes als eine fast schon überlebensgroße Figur jenseits der konventionellen Psychologie?

Wie dieser Cordes beschaffen ist, da kann man auch Psychologie hineinlesen. Aber was die Spielweise und das ästhetische Prinzip anlangt, sind wir weitgehend ohne Psychologie vorgegangen.

Wer ist Svenja für Cordes?

Entscheidend ist, dass dieser Cordes einen untrüglichen Instinkt für Gegner und Gegnerschaft hat. An Svenja bemerkt er anfangs, dass sie ihm absolut ebenbürtig ist, und das reizt ihn über das Weibliche hinaus.

Ebenbürtig durch ihre Unabhängigkeit?

Sie ist ebenbürtig in der ersten Antwort, die sie ihm gibt, auf diese reagiert er wie ein Primat, wie ein Tier. Er will sie besiegen oder besitzen.

Dieser Impuls wird dann aber durch Liebe kompliziert.

Ich glaube, dass er sich im Verlauf des Films dann auch sehr persönlich für sie interessiert. Es passieren zwei Dinge: seine abnehmende Lust am Bankgeschäft führt zu einer Übertragung auf etwas Unbekanntes, das man vielleicht Liebe nennen könnte, wie es da in ihm aufwallt.

Gibt es Szenen, die Ihnen besonders charakteristisch für die Rolle erscheinen?

Ich würde keine Szene hervorheben wollen. Wenn man Cordes genauer beobachtet, dann hat er die Haltung eines Tieres und balanciert rein körperlich durch die Szenen. Er verrät sich dort am deutlichsten, wo er die Haltung verliert. In Cannes auf der großen Leinwand hat man sehr schön gesehen, wo er verletzbar ist.

Wie ging es Ihnen als Theaterschauspieler mit dem reduzierten Spiel, das es für Cordes brauchte?

Das war ein ganz großes Geschenk, einmal so spielen zu können. Ich bin eigentlich wegen eines Filmschauspielers ans Theater gegangen: Jean-Louis Trintignant. Dieser Mensch konnte so gut wie nichts tun, er war reine Projektionsfläche, und so konnte man alles Mögliche in ihn hineinlesen. Vielleicht habe ich eine Spur von dem auch in der Rolle des Cordes erwischt.

Wie wurden Sie für die Rolle ausgewählt?

Christoph Hochhäusler ist an mich herangetreten. Er hat ein Gesicht gesucht, das noch nicht so verfilmt und zerfilmt ist. Nach dem Casting mit Nicolette Krebitz war schnell klar, dass wir für diese Konstellation geeignet sind.

Wie arbeitet Christoph Hochhäusler als Regisseur?

Er ist sehr gut vorbereitet, aber er ist so klug, dass er mit einem Gefühl für das Ungefähre ans Set kommt. Die Vervollständigung geschieht beim Drehen. Er stellt etwas zur Diskussion, das sich vor Ort zu Ende formt. Sein Ton ist ungeheuer sachlich, das hat mir sehr gut gefallen.

Wie war das Drehen der Liebesszenen?

Das war das Anstrengendste an dem ganzen Film, weil diese erotischen Szenen alle im Detail gedreht wurden, also aufgelöst in verschiedene einzelne Bewegungen. Da sahen wir nebenbei auch, wie hart das für Pornodarsteller sein muss, wo es nur um Zuckungen geht, die dann nachher zusammengefügt werden.

Gibt es einen Typus in der Literatur oder im Theater, auf den Sie einen Mann wie Roland Cordes beziehen würden?

Von der Figur her erinnert er mich an einen Shakespeare-König. Wir haben keine Monarchie mehr, aber diese Banker haben diese Figuren abgelöst, weil sie über allem stehen - auch über den Politikern.

robert hunger-bühler Nach dem Besuch der Schauspiel-akademie Zürich und dem Abschluss des Theater- und Philosophiestudiums in Wien, arbeitete Robert Hunger-Bühler als Schauspieler und Regisseur in Wien, Bonn, Düsseldorf und Freiburg. Zu seinen weiteren Wirkungsstätten zählen die Freie Volksbühne Berlin, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das Berliner Ensemble und das Burgtheater Wien.

Er arbeitete u.a. mit den Regisseuren Jossi Wieler, Jürgen Kruse, Frank Castorf, Andrea Breth, Claus Peymann, Luc Bondy, Barbara Frey, Stefan Pucher, Johan Simons, Klaus Michael Grüber, Peter Zadek und Christoph Marthaler. In Peter Steins legendärer “Faust”-Inszenierung spielte Hunger-Bühler die Rolle des Mephisto.

Daneben trat er in etlichen Film und Fernsehproduktionen auf, u.a. in GIER (Dieter Wedel), CASANOVA (Richard Blank), DANNI (Martin Gies), TATORT (TV), POLIZEIRUF (TV), DER REDENSCHREIBER (Julia Albrecht, Busso von Müller) und BINGO (Markus Imboden).

Seit der Saison 2001/02 ist Robert Hunger-Bühler Mitglied des Ensembles amSchauspielhaus Zürich. Seit 2001 ist er Mitglied der Akademie für Darstellende Künste Berlin.